Zum Geleit

Februar 2024

Liebe Freund*innen der Manufaktur,

Stichwort: Das böse Erwachen. Ältere werden sich vielleicht noch erinnern, Jüngere können‘s ja vielleicht mal googlen. 1972 war`s, als Bob Fosse mit Liza Minelli, Michael York, Helmut Griem, Fritz Wepper und Joel Grey in den Hauptrollen das Musical „Cabaret“ nach einer Vorlage von Christopher Isherwood („Goodbye to Berlin“) verfilmte. Thema: Tanz auf dem Vulkan um 1930. Damals ein Kassenschlager. Unvergesslich die Szene, als die Freunde von Berlin aus eine Landpartie unternehmen, in einem Landgasthof landen, wo ein blonder Jüngling am Nebentisch ein Lied anstimmt: „Tomorrow belongs to me!“. Und die ganze „Erregungsmeute“ (Sloterdijk) drum herum stimmt freudig-entschlossen ein. Ein Gänsehautmoment, ein Hoppla-Moment! Das Volk steht auf und singt einfach los. Wurde damals, also 1972, vom deutschen Verleih »leicht bearbeitet« in die Kinos gebracht. Im Superwahljahr 2024, so könnte man meinen, wird uns dieser gruselige Hoppla-Moment wohl erspart bleiben. Karl Marx hat einmal bezugnehmend auf Hegel geschrieben, dass sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen zweimal ereignen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Über die Jahre haben wir, leicht amüsiert, leicht besorgt, leicht abgelenkt, die Radikalisierung der euro-kritischen „Alternative für Deutschland“ über die Zwischenstationen der Protestpartei und des Rechtspopulismus hin zum »gesicherten« Rechtsextremismus verfolgen können. Verfolgen können, weil es früh mutige Leute gegeben hat und gibt, die auf lokaler, regionaler, nationaler und auch internationaler Ebene Absichten, Verbindungen, Netzwerke recherchierten und ihre Erkenntnisse veröffentlichten. Dass hier das Wort „mutig“ angebracht ist, hätte frühzeitig nachdenklich machen können. Davon können die Journalisten Alexander Roth und Peter Schwarz sicher ein Lied singen, wenn sie am 22. Februar in der Manufaktur zu Gast sind. Dann heißt es: „AfD unter der Lupe – Wofür steht die Partei, was plant sie, wird 2024 ihr Jahr?“ Der Abend verspricht spannend zu werden, denn das Thema hat in den vergangenen Monaten und Wochen erheblich an Dynamik gewonnen. Nachdem das politische Establishment lange Zeit glaubte, der AfD dadurch begegnen zu können, dass man die Partei und ihre Akteure als Schmuddelkinder des Parlamentarismus ausgrenzte, isolierte und ignorierte. Gewiss, zahllose abstruse bis belämmerte, provokante bis kriminell-geschichtsvergessene Wortmeldungen und Einlassungen (Stichwort: „Fliegenschiss“) ließen diese Strategie angebracht erscheinen, doch im Gegenzug machte die AfD ihre »Opferrolle« produktiv. Auch die „Brandmauer“-Strategie spielte der Partei in die Hände, zumal sie auf kommunaler (und auch regionaler: Thüringen, Kemmerich) Ebene kaum oder nur unter ständiger Diskussion zu halten war. Die AfD wiederum nahm die Opferrolle dankbar an, provozierte und verhöhnte das politische Establishment und die sogenannten „Mainstream“-Medien, etablierte ihrerseits eine schlagkräftige Gegen-Öffentlichkeit via Social Media, vernetzte sich international, professionalisierte sich und partizipierte parasitär an politischen Krisen. Ohne Rücksicht darauf, dass sich die eigenen Positionen als unterinformiert, kontingent, widersprüchlich oder kaum konsistent erwiesen. Hauptsache: es richtete sich gegen »das Bestehende«. Mit großem (Umfrage-)Erfolg bei den Unzufriedenen im Land, die sich gerne als »schweigende Mehrheit« denken und zum Ausdruck bringen, was man/frau hierzulande nicht mehr sagen darf. In einer dialektischen Volte scheinen sich die »Aufständischen«, die wissen und genießen, dass sie das Unanständige unterstützen, mit dem Brecht-Gedicht „Die Lösung“ aus den „Buckower Elegien“ zu identifizieren. Bezogen auf den Aufstand des 17. Juni (1953) heißt es bei Brecht, dass sich „das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe“. Eine Lösung des Konflikts hat Brecht in petto: „Wäre es da nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Wie gesagt: die Tragödie wiederholt sich als Farce, wenn jetzt – after all these years – laut darüber nachgedacht wird, ob man im Zeichen einer „wehrhaften Demokratie“ nicht gut beraten sei, die AfD zu verbieten oder zumindest dem Thüringer AfD-Spitzenkandidaten Björn Höcke die Bürgerrechte auf Zeit abzuerkennen. Wie gesagt: Zum Jahreswechsel 2023/2024 dynamisierte sich das Geschehen erheblich. Bauernproteste sollten von rechts instrumentalisiert und in Richtung „Generalstreik“ phantasiert werden. Recherche brachten »geheime« Treffen zwischen der AfD, den Identitären, der Werte-Union und Geldgebern aus der Wirtschaft ans Licht, im denen es um Pläne zur Remigration ging. Ein Skandal, klar, mit Folgen: Die AfD distanziert sich halbherzig davon, nennt das Treffen nicht »geheim«, dafür aber inhaltlich anregend, nimmt dankbar hin, dass im Verlauf der aufgeregten Skandalberichterstattung die These des rechtsextremen Referenten Martin Sellner zur Remigration weithin in Umlauf kommen. Kurzum: die AfD, gestärkt durch bundesweite umfragewerte von mehr als 20 Prozent, zeigt dem Establishment und dem Verfassungsschutz den ausgestreckten Mittelfinger. Rechtsextremismus? Drauf geschissen! Und die Demokraten? Mitte Januar 2024 verkündet Friedrich Merz, dass er ein Verbotsverfahren der AfD für problematisch halte, vielmehr solle verstärkt die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Partei gesucht werden. Der Spitzenkandidat der Thüringischen CDU Mario Voigt erklärt sich bereit, Björn Höcke in der direkten Konfrontation zu entlarven, erklärt aber gleichzeitig, dass selbstredend die Ampel in Berlin in der Krise als Brandbeschleuniger wirke. Umgehende Zustimmung, zumindest für den zweiten Teil der Aussage, erhält er von Fabio De Masi (BSW):
„Die Bundesregierung ist die Erntehelferin der AfD.“ Plötzlich geistert das Böckenförde-Diktum durch die Feuilletons: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Kurzum: die Demokratie ist gefordert, aber die Zeit wird knapp. Bleibt zu hoffen, dass es im Herbst 2024 nicht heißt: „Die von den Wahlergebnissen vor den Kopf Gestoßen werden sich fühlen wie von den Wahlergebnissen vor den Kopf gestoßen. Die angesichts des Unerwarteten Fassungslosen werden vor sich Hinstarren wie angesichts des Unerwarteten fassungslos.“ (Sloterdijk)

Eure

Manufaktur

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