Zum Geleit

April 2024

Liebe Freund*innen der Manufaktur,

holy shit! Es ist ja nun schon wieder ein paar Tage her, aber sehr, sehr selten haben wir einen solch unberechenbaren Abriss erlebt wie beim Konzert (Konzert?), wie bei der Performance (Performance?), wie beim Statement von Ballister. Irgendwie auch erwartet – und dann doch überrascht von der puren Power. Und der Attitude. Eine sehr zutreffende Konzertkritik spricht vom „Jazztrio als Fusionsreaktor“. Wie schön, frei und bewegend diese Energie doch macht! Die müssten viel mehr Menschen hören, dann … Tja, was dann? Wir jedenfalls sind sprachlos begeistert. Andernorts, gen Westen, ein paar Kilometer entfernt von der noch immer dank Ballister-Energie leicht zitternden Manufaktur ist man aus weit geringerem Anlass ungleich eloquenter. Dort, in der Landeshauptstadt, werden Pfähle eingerammt: „Jazz ist die musikalische Ausdrucksform für Freiheit, Mut und Toleranz.“ Launig mal so dahin formuliert! So färbt vom Glamour dieser Kunst auch etwas auf die Fans ab. Wenn man die Fans fragt. Denn sie treffen sich ja üblicherweise einmal im Jahr und bilden zu diesem Zweck dann gegen gutes Geld eine „Gemeinschaft“, bei der aber nicht jede/r dabei sein darf. „Völkisches Denken“, zum Beispiel, ist da ein Ausschlusskriterium. »Völkische Denker«, falls es so etwas gibt und sie sich beizeiten zu erkennen geben, sind jedenfalls auf dem Schlossplatz und der näheren Umgebung nicht wohl gelitten. Jedenfalls dann nicht, wenn sich die Gemeinschaft der toleranten wie mutigen Jazz-Fans trifft, um den Sound von Freiheit, Mut und Toleranz zu genießen, dargeboten von Lenny Kravitz, Sam Smith oder Herbert Grönemeyer. Wer jetzt aber nachweis- und belastbar »völkisch« denkt, so das Angebot der Veranstalter, kann seine längst gekaufte Eintrittskarte zurückgeben, damit die tolerante Posse sich nicht weiter gestört fühlt. Viel Beifall dafür in den sozialen Medien. Da hat die Sommersause der Besserverdienenden aber mal richtig Haltung gezeigt! Wobei die Fans der Jazz Open eh davon ausgehen, dass kein »völkisch Denkender« sich jemals am Schlossplatz eingefunden hätte, weil böse Menschen hören keinen Jazz. Wir wären da jetzt nicht so sicher, denn wir hören im Programm der Jazz Open auch eher nur in Ausnahmefällen Jazz. Sondern vielmehr die größten Hits der 70er und 80er Jahre. Bevor es jetzt zu kompliziert wird und die »völkischen Denker« sich, neugierig geworden, vielleicht beim nächsten Jazz-Konzert in der Manufaktur ein Stelldichein geben, wollen wir noch einmal daran erinnern, dass „Haltung zeigen“ auch positive Wirkungen entfalten kann. Zwar hat die Frequenz der Demonstrationen gegen Rechts mittlerweile schon wieder abgenommen, aber es war höchst spannend zu beobachten, wie die geklaute „Volks“-Rhetorik der AfD durch die Präsenz der Demonstrant*innen gehörig ins Schwimmen geriet und allerlei Verschwörungstheorien und seltsame historische Assoziationen produzierte. Wenn Nazis erleben müssen, dass Nicht-Nazis gegen sie auf die Straße gehen und dabei ein paar Kerzen anzünden, müssen sie gleich an die Fackelumzüge der Nazis denken. Und beim Osterfeuer an den Reichstagsbrand? Andersrum geht’s übrigens auch. Da reicht eine Sachbeschädigung im Brandenburgischen für düstere Zukunftsprognosen. Hatten wir nicht jüngst etwas herablassend über das technische Knowhow unserer Exekutive geurteilt? Jetzt war zu erleben, dass ein (wenngleich: dubioses) polnisches Gesichtserkennungsprogramm dazu taugt, in Berlin etwas zu finden, wonach die Fahndungsprofis 30 Jahre vergeblich gesucht hatten. Als das Ex-RAF-Mitglied Daniela Klette dann in ihrer Wohnung gestellt wurde, erhielt sie großzügig noch Gelegenheit zu einem Anruf. Sie rief aber keinen Anwalt an, sondern Kumpel und Hundefreund Burkhard Garweg, der daraufhin erst einmal in der Klandestinität umzog. Spannend an diesem „Fahndungserfolg“ war zu beobachten, wie das kollektive Gedächtnis zu arbeiten und Geschichten zu produzieren begann. Da poppten alte Bilder auf, die bei Jüngeren, denen man Begriffe wie „Dritte Generation“, „Stammheim“, „klammheimliche Freude“ oder auch „Herrhausen“ erklären muss, gar nicht verfangen, während Ältere ihre Jugenderinnerungen von Fahndungsplakaten beim Bäcker und Straßensperren noch einmal in Zeilenhonorar ummünzten: „Wie ich einmal aufgrund meiner bunt bemalten Ente fast als Staatsfeind durchgegangen wäre und nur um Haaresbreite nicht der putativen Notwehr zum Opfer fiel!“ Andernorts wurde da flux die Radikalisierung der Letzten Generation in die Militanz prognostiziert, was sich dann durch den Anschlag auf die Gigafactory in Grünheide zu bestätigen schien. Je nach Alter und Temperament darf also gewählt werden aus den Optionen „Verdamp lang her!“ und „Jetzt geht’s wieder von vorne los!“ Uns bescherte das ganz nebenher ein unverhofftes Wiedersehen mit Eichingers/Austs/Edels „Der Baader Meinhof Komplex“ in irgendeiner Mediathek. Ein Film, der ob seiner spekulativ-boulevardesken und zudem völlig unpolitischen Machart stets zuverlässig sehr, sehr wütend gemacht hatte. Jetzt, nach den Bildern von Klette und Garweg und den Hunden, haben wir erstmals erkannt, dass es sich dabei um eine böse, sehr schwarze Komödie handeln muss. Danke für nichts!

Eure

Manufaktur

Teile diese Seite